Genre-Ausflug: Visual Novels

Startbildschirm von DokiDoki Literature Club von Team Salvato (eigene Abbildung)

Woran denkt ihr beim Begriff Visual Novels? Schießt euch dabei auch gleich die verstaubte Erinnerung an die eine oder andere Stunde im Deutschunterricht durch den Kopf? Novellen...da war doch was...kurze abgeschlossene Geschichten? - Dann seid ihr gedanklich gar nicht so weit weg vom heutigen Thema. Zwar haben Visual Novels nur bedingt etwas mit Werken, wie "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm zu tun, aber dennoch konzentriert sich das Genre hauptsächlich auf Geschichtenerzählung.

Nachdem der letzte Eintrag sich ja schon mit Storytelling befasste, fiel mein Gedanke bei der Recherche dazu auf Visual Novels. Denn dieses Genre hat den Fokus vornehmlich auf der Erzählung.
Vielleicht denkt der ein oder andere ja auch an diese anzüglichen Spiele mit Charakteren im Manga-Stil, die dann irgendwann leicht bekleidet bis nackt in Großaufnahme zu sehen sind. Auch das ist nicht ganz verkehrt, jedoch handelt es sich hierbei um Eroge. Und Eroge sind nur eines von vielen Subgenres der Visual Novels.

Im Westen populäres Adventure-Game: Life is Strange (eigene Aufnahme aus der PC-Version)

Was ist das Besondere an Videospielen? Eigentlich ja, dass der Spieler enorm viel Kontrolle über den Ablauf hat. Doch schaut man sich Spiele an, die im Westen eigentlich so bekannt für ihre tiefgründigen und mitreißenden Geschichten sind, dann handelt es sich dabei oft um sehr geradlinige Erfahrungen, deren Hauptstory kaum beeinflusst werden kann. Doch Einflüsse von Visual Novels kann man selbst in Spielen wie FinalFantasy VII bemerken, die im Westen enorm bekannt sind (vgl. IcksMehl.de [2]).

Zitat von Team Salvato (Entwickler von DokiDoki Literature Club): "Our mission, through our games, is to tell stories and express creativity in ways not possible using traditional media. As an interactive art form, games can become a part of your story, as well. Through that, we aim to inspire others." (Quelle: Team Salvato 2018 [1])

Das Gameplay wurde immer weiter verfeinert um Spielern immer mehr Kontrolle zu geben, doch das Storytelling selbst wird nur selten interaktiv gestaltet. Vielen ist das womöglich erstmals mit der Mass Effect-Reihe oder dem Spiel Heavy Rain aufgefallen. Doch es gibt Spiele, deren Stärke schon länger in der Erzählung liegt - Visual Novels.

1. Was macht eine Visual Novel aus?

Sucht man bei Steam nach Visual Novels, wird man auf das Genre "Abenteuer" gelenkt. Tatsächlich werden Spiele dieser Art auch oft als Japanische Adventures bezeichnet oder als eine Unterart dieser gesehen, welches sich noch sehr viel weiter aufteilen lässt. Der Ursprung dieser liegt vermutlich in den Textadventures der 1970er Jahre. Die US-Serie BigBang Theory zeigte bspw. wie Charakter Sheldon Cooper einmal so ein Spiel spielte. Die Genrebezeichnung auf Steam ist also schon relativ treffend, wenngleich man sich im Westen "Abenteuer" in Videospielen meist wahrscheinlich eher weniger textlastig vorstellt.
Klassischer Bildschirm-Aufbau einer Visual Novel: statischer Hintergrund und Charakterbild, sowie Textkasten mit Optionen. Am Beispiel von DokiDoki Literture Club (eigene Abbildung)

Das Genre kommt aus Japan und zeichnet sich besonders durch seinen Fokus auf die Art der Erzählung aus. Gameplaytechnisch sehen Visual Novels für viele Gamer wahrscheinlich auf den ersten Blick sehr gewöhnungsbedürftig aus. Denn die meisten Spiele dieses Genres besitzen kein Gameplay der herkömmlichen Art. Visual Novels sind klassicherweise textbasiert und nutzen oft lediglich einige statische Hintergrundbilder und Bilder von Charakteren für die Visualisierung. Der Spieler liest Dialoge und manchmal Erläuterungen eines Erzählers und klickt sich so durch das Spiel. Während der Erzählung werden dem Spieler ab und zu Dialogoptionen angeboten, wie Gespräche weiter geführt werden können und wie man als Protagonist auf eine Situation reagieren möchte.

Dialogoptionen in Akiba'S Trip (eigene Abbildung aus der PS-Vita-Version)



Über diese Dialogoptionen wird die Geschichte in bestimmte Bahnen geleitet, die auch "Routen" genannt werden. Eine Visual Novel kann dabei sehr viele Routen bieten und genau das macht den Reiz eines solchen Spiels aus. Wie wird die Geschichte wohl verlaufen, wenn man sich hier anders entscheidet?
Bewertungsbildschirm am Ende einer Route von GalGun: Double Peace (eigene Abbildung)

Spiele dieser Art haben nicht den Anspruch durch ein aufwändiges Gameplay zu begeistern, sondern durch die erzählte Geschichte. Man kann sich das Genre theoretisch als interaktive digitale Bücher vorstellen. Oder manche auch als Videospielvariante eines Rollenspiels (nicht das Games-Genre sondern Tabletop-Spiele mit Würfeln, Spielleiter usw.).

Viele Spiele bieten die Möglichkeit an bestimmten Schlüsselpunkten im Verlauf der Geschichte aufwändig illustrierte Bilder (sogenannte CGs ,was für "computer graphics" steht) freizuschalten. Diese zeigen dann eine besondere Situation der Erzählung und sind später in einer Galerie für den Spieler einsehbar. Auch das kann ein Anreiz sein, verschiedene Routen einer Geschichte zu spielen und unterschiedliche Antwortmöglichkeiten zu testen, um solche Bilder freizuspielen. Dadurch geben sie natürlich auch Feedback, ob ein Spieler bereits alle möglichen Routen gespielt hat.

CG aus Cyberdimension Neptunia: 4 Goddesses Online (eigene Abbildung aus der PS4-Version)

In der japanischen Anime-Kultur sind Visual Novels relativ populär vertreten. Manche Anime haben bspw. eine VN als Vorlage, wie z.B. School Days, welches für mich die erste Berührung mit dem Genre war. Daneben gibt es aber auch Serien, die sich der Thematik selbst bedienen, wie etwa The World God Only Knows, welches sich besonders auf Dating Sims bezieht und Oreimo (kurz für: Ore no Imōto ga Konna ni Kawaii Wake ga Nai), welches eine Protagonistin zeigt, die Eroge liebt und das vor ihrer Umwelt zu verheimlichen versucht.

Leichte Animationen können bei CG's ebenfalls verwendet werden. Auf ein Bild folgt ein leicht verändertes. Hier aus Sword Art Online: Hollow Realization (eigene Abbildung aus der PS4-Version)

Auch auf andere Genres hatten Visual Novels starken Einfluss. In FinalFantasy VII bekommt der Spieler bspw. hin und wieder Dialogoptionen angeboten. Diese nehmen Einfluss auf die Beziehung von Protagonist Cloud zu den anderen Charakteren und verändern je nach Beziehungsgrad einige kleinere Cutscenes und Gespräche im Spiel. Am bekanntesten ist dabei wohl das Date im Goldsaucer (vgl. IcksMehl.de [2]). Dies ist eine Mechanik, die eigentlich aus sogenannten Dating-Sims (einem Subgenre der Visual Novels) stammt. Auch die Star Ocean-Reihe bedient sich eines solchen Systems und bestimmt daran, welche Charaktere sich der Gruppe dauerhaft anschließen oder wie genau das Ende des Spiels aussieht.

2. Vermischung unterschiedlicher Genres

Viele Spiele benutzen diese Art der Erzählung auch einfach für ihr Storytelling, obwohl sie ein ganz eigenes Gameplay besitzen.

Cutscene im Stil einer Visual Novel in Cyberdimension Neptunia: 4 Goddesses Online (eigene Abbildung aus der PS4-Version)

Ein Beispiel dafür ist zum Beispiel die Hyperdimension Neptunia-Reihe, deren Gameplay sich von rundenbasiertem RPG, über simuliertem Action-MMORPG, bis hin zu Hack'n'Slash. Die Geschichte wird dabei fast immer im Stil einer Visual Novel erzählt. Dabei lassen sich ganz typisch im Laufe der Geschichte CGs freispielen und manche Events werden sogar in kurzen Animationen dargestellt.

Gameplay in Cyberdimension Neptunia: 4 Goddesses Online (eigene Abbildung aus der PS4-Version)

Auch Fighting Games können sich die Art der Erzählung zu Nutze machen. Die Spielreihe BlazBlue verbindet dabei sehr gekonnt die Form von Visual Novels mit der eigenen Geschichte. Ein kleiner Spoiler zum ersten Spiel der Reihe: Im Laufe des Spiels merkt man irgendwann, dass die verschiedenen Spieldurchläufe kein wirkliches "Game Over" sind sondern innerhalb der Spielstory logisch aufgegriffen werden. Denn jedes Game Over führt zu einer alternativen Realität, in der die Story nicht wie gewünscht weiterging und daher von einer bestimmten Kraft zurückgedreht wurde, in der Hoffnung einen ganz bestimmten Verlauf herbeizurufen. Die Geschichte nutzt also die Routen einer VN und bindet sie in sich ein. Das Spiel wird sowohl über die Erzählung in Form einer Visual Novel fortgeführt aber zusätzlich auch im Kampfspiel als Gameplay-Element. Zwischen den Kämpfen wird die Story über ausgedehnte Dialoge zwischen den Charakteren präsentiert. Sehr oft bekommt der Spieler auch eine Entscheidungsmöglichkeit und die Geschichte kann beeinflusst werden. Hier kann eine Geschichte abrupt enden oder eine komplett neue Wendung nehmen und die ernste Handlung im Spiel schwenkt auf einmal zu einem der vielen Comedy-Routen um. Nachdem der Spieler sämtliche Routen von allen Charakteren durchlaufen hat, spielt man das "True Ending" frei, welches sämtliche bisherigen Handlungsstränge zusammenlaufen lässt.

Zusammenspiel von Storytelling (bei 07:41 sogar mit animierter Cutscene) und Kampfspiel-Gameplay in BlazBlue: Calamity Trigger

BlazBlue zeigt, wie man mit der Erzählform einer Visual Novel eine enorm komplizierte aber dadurch auch interessante Geschichte erzählen kann. Durch die Kombination von Fighting Game-Spielmechanik und der VN als Erzählform entsteht ein schöner Mix, der dem Spieler die Möglichkeit gibt, sich die komplizierte Story in vielen Punkten selbst vorzustellen. Obwohl BlazBlue keine klassische Visual Novel ist erstrahlt die Erzählform hier in Bestform. Mir persönlich ist die Reihe daher auch so sehr ans Herz gewachsen, weil sie eine derart gute & komplexe Geschichte so simpel aber auf den Punkt erzählen kann. Der Bruch zwischen Gameplay und Erzählung kann kaum krasser sein, aber genau das macht den Reiz für mich hier aus.
Falls ihr die Story in Kingdom Hearts schon verwirrend fandet: viel Spaß beim Versuch in BlazBlue durchzusteigen.

GalGun: Double Peace ist ein Rail-Shooter der etwas anderen Art. Hier werden mit Pheromon-Schüssen aufdringliche Teenager abgewehrt. - links: Rail-Shooter-Gameplay | rechts: Wegauswahl (eigene Abbildung aus der PS-Vita-Version)

Auch Ego-Shooter können sich der Erzählform bedienen. Das Spiel GalGun: Double Peace verbindet das Gameplay eines Ego-Shooters mit der Erzählform einer Visual Novel und Elementen eines Dating-Sims. Dating-Sims sind wie bereits erwähnt ein Subgenre der Visual Novels. Hier wird durch bestimmte Aktionen, wie zum Beispiel Erfolgen, Misserfolgen oder gewählten Dialogoptionen, die Beziehung zwischen verschiedenen Charakteren beeinflusst und so die Route im Spiel gewählt. Erst die Kombination aus mehreren Einflussfaktoren führt dort zu neuen Routen, was das Spiel um einiges komplexer macht, als bei einer reinen Visual Novel.
In GalGun sind solche Optionen nicht nur in Dialogen zu finden, sondern auch in der Levelauswahl oder welchen Weg man auf einer Map läuft. Die Handlung läuft dabei innerhalb eines einzigen Tages ab und mit jedem Level schreitet der Tag etwas weiter voran.

Ähnlich wie bei Filmen stellt sich auch bei Spielen oft die Frage, welches Genre man dem Produkt am besten zuschreibt, wenn sich mehrere darin vereinen. Und genau wie im Film einigt man sich dabei oft auf ein bekannteres Genre im Titel oder eben eines, das wohl mehr Massentauglichkeit besitzt, wenn man es liest.

3. aktuelle Entwicklungen des Genres

Seit einigen Jahren sind Spiele die derart auf eine Story fokussiert sind auch im Westen populärer geworden. Titel wie Heavy Rain oder Life is Strange haben theoretisch starke Ähnlichkeiten zum Visual Novels-Genre, sind aber definitiv weitaus aufwändiger und ähneln mehr interaktiven Filmen als Büchern. Auch die Verwandtschaft zu "Point&Click" Spielen ist nicht zu leugnen. Auch solche Spiele wie Life is Strange werden auf Steam als Adventure gelabelt.
Spiele wie Heavy Rain oder Life is Strange haben es geschafft ein breites westliches Publikum für storyfokussierte Spiele zu begeistern, die populäres Action-Gameplay hinten anstellen.

Zwischendurch gab es auch immer mal wieder einzelne erfolgreiche Titel wie Time Hollow für den Nintendo DS, Danganronpa oder Steins;Gate, die hierzulande auch eine gewisse Fangemeinde begeistern konnten. Phoenix Wright und Professor Layton konnten sich sogar als ziemlich populäre Reihen auf Nintendo-Handhelds etablieren. Ein enorm gefeierter Titel war auch Doki Doki Literature Club. Letzteres wurde vom Team Savalto entwickelt, dessen Hauptentwickler Dan Savalto schon vorher durch Smash Bros. Melee-Mods Bekanntheit erlangte. Doki Doki zeichnete sich durch eine enorm interaktive Story aus. Das Spiel kommt bewusst wie eine stereotypische Visual Novel daher und spielt ganz gezielt mit den bekannten westlichen Vorurteilen des Genres, wie süßen Anime-Mädchen und einem Harem-Setting.

Visual Novels sind ein Genre, das man gespielt haben muss, um die Faszination dahinter zu verstehen. Jemandem die Faszination aus einem Buch zu erklären, indem man ihm einfach ein Buch unter die Nase hält, dürfte genauso schwer sein, wie jemanden für Visual Novels zu begeistern, indem man ihm Gameplay zeigt. Die Erfahrung liegt bei diesen Spielen wahrscheinlich noch viel stärker auf dem eigenen Erleben, als bei anderen Spielen, die optisch zu beeindrucken wissen und neben Story auch Gameplay bieten.

Wer gerne mal in das Genre hinein schnuppern möchte, würde ich einen der zuletzt genannten Titel empfehlen. Time Hollow mag mittlerweile schwer zu bekommen sein. Titel wie Danganronpa, Steins;Gate oder Doki Doki sind dafür nach wie vor gut erhältlich. Doki Doki ist sogar kostenlos über Steam spielbar. Allerdings solltet ihr beachten, dass besonders Doki Doki ein sehr harter Einstieg in das Genre sein kann und die Disclaimer zu Beginn des Spiels sehr ernst genommen werden sollten! Wer lieber einen leichteren Einstieg in die Erzählstruktur bekommen möchte kann sich auch die Phoenix Wright-Reihe einmal ansehen. Die Reihe erzählt Krimis im Gerichtssaal und peppt das Gameplay dabei mit kleinen Rätseln in den Dialogoptionen auf. Professor Layton-Spiele könnten ebenfalls etwas für Kirmi- und Rätsel-Begeisterte sein.

Visual Novels gliedern sich enorm auf und es gibt noch sehr viel mehr zum Genre zu sagen. Insbesondere die enorme Genre-Untergliederung kam hier noch etwas kurz. Ich würde gern noch einmal einen weiteren Post schreiben, der sich mehr mit den einzelnen Genres befasst aber für heute soll dieser kleine Einstieg genügen. Wenn ihr Empfehlungen zu Visual Novels habt oder etwas anderes zum Thema schreiben wollt dann würde ich mich sehr über eure Kommentare freuen!

Quellen:
[1] - Zitat von Team Salvato: http://teamsalvato.com/team/

[2] Dating-System in FinalFantasy VII: https://www.icksmehl.de/spiele/final-fantasy-7/dating-guide/ereignisse/

BlazBlue: Calamity Trigger Footage - AnTiHrIsTiS (YouTube) https://www.youtube.com/user/AnTiHrIsTiS

Spiele:
Akiba'S Trip (© ACQUIRE Corp. 2014) | BlazBlue: Calamity Trigger (© Arc System Works 2008) | Cyberdimension Neptunia: 4 Goddesses Online (© Idea Factory International 2017) | Danganronpa (© Spike Chunsoft 2010) | DokiDoki Literture Club (© Team Salvato 2017) | FinalFantasy VII (© SquareSoft 1997) | GalGun: Double Peace (© Inti Creates 2015) | Heavy Rain (© Quantic Dream 2010) | Mass Effect-Reihe (© BioWare) | Life is Strange (© SquareEnix 2015) | Sword Art Online: Hollow Realization (© Bandai Namco Entertainment 2016) | Phoenix Wright-Reihe (© Capcom) | Professor Layton-Reihe (© Nintendo) | Time Hollow (© Konami 2008)

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